Geht die deutsche Sprache den Bach runter, Herr Professor?
Überall nur englische Begriffe, Jugendliche, die man nicht mehr versteht und auf ein Minimum reduzierte Textnachrichten: Ist die Deutsche Sprache in Gefahr? Mitnichten. Prof. Dr. Rudi Keller erklärt, warum wir uns keine Sorgen machen müssen - auch wenn das Sprachschützer-Vereine zuweilen anders sehen.
Herr Prof. Dr. Keller, geht die deutsche Sprache den Bach runter?
Ist überhaupt jemals irgendeine Sprache auf dieser Welt „den Bach runtergegangen“? Die These des Sprachverfalls gibt es schon seit dem Altertum. Schon die alten Griechen haben sich darüber Sorgen gemacht. Aber aus den letzten 2000 Jahren ist mir keine Sprache bekannt, die – wie Sie sagen – den Bach runtergegangen ist. Sprachen verändern sich kontinuierlich, das trifft nicht nur auf große Sprachen wie Deutsch zu, sondern vielleicht noch stärker auf kleine Eingeborenensprachen, die nicht verschriftlicht sind – denn Verschriftlichung stabilisiert die Sprache und verlangsamt Veränderungen.
Warum machen sich denn so viele Leute Sorgen um das Deutsche?
Eine Sprache ist ja nichts anderes als ein bombastischer Brauch, eine Konvention. Wenn sich Konventionen verändern, dann werden sie zunächst einmal als Verschlechterung wahrgenommen – weil sie vom Üblichen abweichen. Das ist genau wie in der Mode. Als die Beatles mit ihren Pilzköpfen kamen, haben sich die Leute furchtbar aufgeregt. Heute kann man mit einer solchen Frisur Bankdirektor werden. Ich meine das nicht negativ, aber es sind immer Bildungsbürger, die sich solche Sorgen machen. Den Menschen ist oft nicht klar, wie wir eigentlich miteinander reden. Ein Beispiel: Ich vermute, dass wir in ein paar hundert Jahren nicht mehr „haben“ schreiben, sondern „ham“. In der gesprochenen Sprache benutzen wir diese Form heute bereits. Es ist eine ökonomische Verkürzung. Solche Phänomene gibt es zu jeder Zeit.
Wenn es alle machen, warum wird dann meistens die jüngere Generation für eine „Verhunzung“ des Deutschen verantwortlich gemacht?
Alle jungen Menschen pflegen irgendeinen Jargon, den man dann im weitesten Sinne Jugendsprache nennt. Dieser Jargon dient aber im Wesentlichen nicht der Abgrenzung, wie oft gesagt wird, sondern als gruppeninternes Imponierspiel. Man beeindruckt durch das neue Moped oder eben durch tolle Sprüche und Formulierungen. Das wird in diesem gewissen Alter gepflegt, in dem das Interesse am jeweils anderen Geschlecht munter wird, man in der Gruppe und der Gesellschaft seine Position sucht. Das ist aber keine Verhunzung sondern ein kreatives Spiel. Wenn ein Jugendlicher allerdings nur den aktuellen Jugendjargon beherrscht, dann hat er es im späteren Erwachsenenleben schwer. Als Jugendlicher lebt man gemeinhin gewissermaßen zweisprachig.
Ein derzeit wichtiger Einfluss auf unsere Sprache ist ja der, wie manche sagen, „inflationäre Gebrauch“ des Denglischen – also eine Mischung aus Deutsch und Englisch. Ist das wirklich so schlimm, oder kann das der Sprache auch gut tun?
Ich glaube, das kann man immer nur von Fall zu Fall beurteilen. Manchmal sind ja englische Wörter treffender als deutsche. Menschen, die das grundsätzlich kritisieren, haben meiner Meinung nach einfach zu wenig Sprachgefühl und betrachten das zu ideologisch. Nehmen wir zum Beispiel das Wort „Kids“. Das sind offensichtlich junge Menschlein zwischen acht und 16 Jahren, die eine Baseballmütze auf dem Kopf haben und Skateboard fahren. „Kinder“ ist da viel unspezifischer. Oder „Baby“: Das ist gebräuchlich, weil es einfach schöner klingt als „Säugling“. Da muss ich immer an „Engerling“ denken. Man kann also nicht generell sagen, dieses Wort ist gut und jenes böse. Es kommt darauf an, in welchem Kontext es verwendet wird, in welchen Lebenssituationen.
Und wenn aus dem guten alten Hausmeister der Facility Manager wird?
Die Frage ist, wer er wirklich ist. Facility Management-Firmen betreiben eine umfassendere Betreuung als der Schulhausmeister. Außerdem spielt bei Berufsbezeichnungen natürlich das soziale Prestige eine Rolle. In einer Annonce wird ja auch keine Putzfrau gesucht, sondern eine Reinigungskraft.
Es gibt Vereine zur Pflege und Bewahrung der deutschen Sprache, die sich strikt gegen diese Einflüsse wehren. Halten Sie diese Arbeit für sinnvoll?
Das ist für mich eine ähnliche Frage wie die, ob ich einen Briefmarkensammler-Verein für sinnvoll halte: Denen macht das Spaß, es schadet niemandem – aber es nützt auch nichts. Mir ist nicht bekannt, dass dadurch irgendwem irgendwo gelungen ist, die Sprachentwicklung aufzuhalten. Wenn der Verein für deutsche Sprache fordert, dass wir statt „Laptop“ „Klapprechner“ sagen sollten, dann kann ich nur antworten: Sagt doch ihr Klapprechner! Ich sage Laptop, weil ich mich nicht lächerlich machen will. Wem gehört denn die Sprache? Wer hat das Recht, mir vorzuschreiben, dass ich „Prellsack“ sagen soll statt „Airbag“? Niemand. Das ist meine Sprache, und ich spreche, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Manches ist Blödsinn, manches schön, manches hässlich. So ist das bei jedem anderen Menschen auch. Mein Automechaniker würde sich doch ‘nen Ast lachen, wenn ich dem sagen würde: „Ich glaube, mein Prellsack ist kaputt.“
Sprachliche Zeitreise
Seit 1971 kürt die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort des Jahres. Gewählt werden Worte und Ausdrücke, die für große Themen stehen, die im jeweiligen Jahr im Zentrum der öffentlichen Debatte standen. Seit 1991 gibt es auch das Unwort des Jahres, das den Blick "auf sachlich unangemessene oder inhumane Formulierungen im öffentlichen Sprachgebrauch" lenkt. Und 2008 suchte eine Fachjury unter der Leitung des Langenscheidt-Verlags erstmals auch das deutsche Jugendwort des Jahres.
Gibt es das überhaupt so etwas wie richtiges Deutsch?
„Richtiges“ Deutsch ist nicht nur durch Normen festgelegt, sondern im Grunde eine Frage des Geschmacks. „Meinem Vater sein Auto“ ist genau so verständlich wie „das Auto meines Vaters“. Das ist auch nicht länger oder umständlicher. Die jeweilige Ausdrucksweise ist allerdings auch ein Symptom für ein bestimmtes Bildungsniveau oder für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht. Genau genommen liegt es also nicht an der Sprache, sondern an den Hintergründen, wenn eine Formulierung als unpassend empfunden wird. Ich glaube, diese ästhetische Bewertung ist letztlich eine soziale.
Aber es gibt doch Menschen, deren Beruf es ist, anderen sprachlich etwas vorzuschreiben. Lehrer zum Beispiel.
Im Zuge des Erziehungsprozesses, ja. Der dient aber nicht dazu, den Kindern Deutsch beizubringen. Denn Deutsch können sie bereits – von einigen Kindern aus Migrantenfamilien abgesehen. Sie können nur nicht diese Art von normiertem Deutsch, die in unserer Gesellschaft geschätzt wird und die man offensichtlich auch beherrschen muss, wenn man eine Lehrstelle oder einen Studienplatz bekommen will. Auch die allerkleinste Karriere erfordert eine Anpassung an geschätzte Normen. Aber die Normen sind ja per se nicht besser oder komplizierter. Das „verwahrloste“ Deutsch ist auch nicht einfacher als ein nicht-verwahrlostes Deutsch.
Wir sind mittlerweile ständig online und fast überall erreichbar. Welchen Einfluss hat das auf unsere Art zu sprechen?
Interessanterweise ist der Einfluss umgekehrt größer. Wenn Menschen SMS schreiben, chatten oder twittern, dann schreiben sie eher, wie sie sprechen – anders, als sie es etwa in einem Aufsatz machen. Wenn wir reden, sagen wir zum Beispiel Sätze wie: „Mein Vater, dem hab ich ein Buch geschenkt“. Im Internet sind solche Ausdrucksweisen ganz normal. Außerdem hat man bei vielen digitalen Medien nur eine gewisse Anzahl an Zeichen zur Verfügung. Es kommt aber ja jetzt keiner auf die Idee, sich im Gespräch mit „mfG“ zu verabschieden.
Haben Sie eine Vorstellung davon, wie wir in 50 Jahren sprechen werden?
Um ehrlich zu sein, nein. Aber als ich anfing, mich mit Sprachwandel auseinanderzusetzen, habe ich mir in der Universitätsbibliothek in Düsseldorf Tageszeitungen aus den fünfziger Jahren angeschaut. Da stößt man Schritt und Tritt auf Ausdrucksweisen, die man zwar noch versteht, aber nicht mehr verwenden würde. Ganz gravierend, aber gleichzeitig erhellend und lustig waren die Heiratsanzeigen. Da suchen Männer eine „treue Ehekameradin“, ein „treues Mädel“. Frauen annoncieren „Fräulein, 36...“. Keine Frau würde sich heutzutage so nennen.
Gibt es neben den Einflüssen aus anderen Sprachen noch weitere Trends, die sich für die Zukunft abzeichnen?
Gegenwärtig ist der Gebrauch von „du“ und „Sie“ stark im Fluss. Als meine Tochter um die zwanzig war und mit einer Freundin nach Hause kam, dachte ich: Ich kann die ja jetzt nicht einfach duzen, das ist eine erwachsene junge Frau. Aber Frau Schmidt ging mir auch nicht über die Lippen. Also habe ich den Vornamen verwendet und sie gesiezt. Das scheint im Fortschreiten zu sein – auch als Konsequenz daraus, dass es das Wort „Fräulein“ nicht mehr gibt. Man weicht dann irgendwie aus – es sei denn, man ist in der Behörde. Man muss zurzeit ein sehr feines Gefühl haben dafür, wann man sich duzt und wann siezt.
Spielt die Globalisierung dabei auch eine Rolle?
Sicherlich. In den USA ist das Leben bezüglich der korrekten Anrede zwar nicht einfacher als bei uns; was aber immer geht, ist der Wechsel von der formellen Anrede auf den Vornamen, ohne dass man sich das „Du“ anbietet. Als ich mit einem Kollegen in den USA war, den ich zu diesem Zeitpunkt gesiezt habe, konnten wir das vor Ort nicht lange durchhalten, weil alle sich mit Vornamen anredeten. Bei uns braucht man ja eine kleine Zeremonie dazu.
Gibt es etwas, was typisch ist für die deutsche Sprache ist, wenn man sie mit anderen vergleicht?
In Deutschland neigt man dazu, sich bisweilen sehr umständlich auszudrücken. Da kann aber die Sprache nichts dafür. Es scheint eine deutsche Vorliebe zu sein. Möglicherweise ist das auch ein Grund dafür, warum manchmal englische Ausdrucksweisen eleganter wirken. Aber es gibt noch eine Besonderheit, die vor allem ausländischen Germanisten auffällt: Das Deutsche ist sehr bildhaft, vor allem bei Körperteilen und Krankheiten. Ein Wort wie „Mutterkuchen“ gibt es in keiner anderen Sprache. Ein Franzose sagte mir mal: Wie schön ist doch „Gelbsucht“ im Vergleich zu „hépatite“. Ein Engländer sagte: Wie toll ist „Weltall“ im Vergleich zu „universe“. Durch diese semantische Transparenz ergeben sich wirklich viele schöne Wörter.
Haben Sie ein Lieblingswort?
„Liebäugeln“ ist ein wunderbares und romantisches Wort mit hoher Aussagekraft. Deutsch ist einfach eine sehr wortbildungsfreudige Sprache. Der fünfjährige Enkel eines Kollegen will, wenn er mal groß ist, „Müllautohintendraufsteher“ werden. Solche Wortinnovationen sind in anderen Sprachen schwieriger. „Kartoffelbrei“ heißt auf französisch „purée de pommes de terre“ – wo wir mit einem Wort auskommen, brauchen die Franzosen schon fünf Wörter.
Interview: Rachel Kapuja
Prof. Dr. Rudi Keller, geboren 1942 in Mannheim, studierte in Heidelberg Germanistik und Kunstgeschichte. 1978 habilitierte er für Germanistische Linguistik an der Universität Düsseldorf und unterrichtet dort seitdem als Professor am Germanistischen Seminar. Zu seinen Hauptforschungsgebieten zählt vor allem der Sprachwandel, aber auch Zeichentheorie und Unternehmenskommunikation. Neben zahlreichen europäischen Universitäten dozierte er u.a. in Korea, Australien und den USA.