Muss man sich für deutsche Musik schämen?
Scorpions und Scooter zum Trotz: Deutsche Musik ist erfindungsreich und hat eine gute Zukunft, findet Journalist Jochen Schliemann. Die sieht er vor allem im Hip-Hop und in der Rückkehr des Diskurspop. Und David Hasselhoff? Tja, um den kommt man halt auch nicht drumrum, wenn es um Deutsche und Musik geht.
Jochen, Du kommst viel rum und hast mit Künstlern aus aller Welt zu tun. Muss man sich für deutsche Musik schämen?
Es kommt auf die Sichtweise an. Wir Deutschen sind zunächst mal ziemlich gut darin, vieles sehr kritisch zu sehen. In anderen Ländern werden erfolgreiche Musiker anders behandelt als bei uns. Wir sind erst mal skeptisch und fragen: Haben die den Erfolg überhaupt verdient? Wenn Du mich persönlich fragst, dann bringt mich die Frage auf die Scorpions.
Inwiefern?
Die Scorpions sind sehr erfolgreich, aber für mich musikalisch indiskutabel. Die ersten Platten fand ich noch spannend. Das war krautrockig und experimentell. „Still loving you“ ist ein Super-Song. Aber mehr ist da nicht. Da werden nach US-Vorbild schematische Sachen aus den Fingern gesaugt. Das hat nichts Eigenes. Es gibt dagegen auch deutsche Bands, die im Ausland respektiert werden und die tatsächlich etwas Deutsches transportieren. So wie Guns’n’Roses für Los Angeles stehen, steht zum Beispiel Kraftwerk für Deutschland.
Was macht Kraftwerk so deutsch?
Weil es Kunst ist, lässt sich das nur schwer in Worte fassen. Kraftwerk haben etwas sehr Strukturiertes. Sie haben in der elektronischen Musik außerdem Pioniergeist bewiesen. Das sind beides Begriffe, die ich diesem Land zuordne. Auch Einstürzende Neubauten gehören für mich dazu. Sie sind neugierige Forscher – um mal im deutschen im Klischee zu bleiben. Die Neubauten machen eine Kombination aus hochliterarischen Texten – mal dadaistisch, mal gewollt eine Spur zu abstrakt – und einem völlig experimentellen Industrie-Sound.
Der ja auch andere Musiker inspiriert hat – vor allem im Ausland ist die Band nicht nur bekannt, sondern hoch geschätzt.
Ohne die Einstürzenden Neubauten wären zum Beispiel die Nine Inch Nails nicht möglich gewesen. Die benutzen das Geräusch einer zerplatzenden Glühbirne als Rhythmusinstrument. Das ist zum ersten Mal bei den Neubauten passiert. Im Gegensatz zu den Scorpions ist das etwas Eigenes, das definitiv deutsch ist.
Kraftwerk und andere deutsche Bands wie DAF gelten als Wegbereiter des Techno. Was ist mit Scooter? Die werden auch im Ausland gefeiert. Zu Recht?
Wenn ich morgens aufstehe höre ich nicht als erstes Scooter. Ich war aber tatsächlich mal auf einem Konzert, und es war beeindruckend. Manchmal eher negativ beeindruckend. Aber ich hatte meinen Spaß. Das ist doch, was zählt. Und darum ist es völlig in Ordnung, wenn sie im Ausland gefeiert werden. Aber für meinen künstlerischen Anspruch ist das zu wenig.
Welchen Anteil haben Scooter an der Entwicklung der Techno-Musik?
Sie haben einen eigenen Sound. Den hat aber auch eine Kuh, die rückwärts auf dem Mofa sitzt und dabei schreit. Sie haben den Techno künstlerisch nicht weitergebracht. Sie haben ihm aber eine Breitenwirkung verpasst, indem sie es auf einen kommerziellen Sound runtergebrochen haben. Weiter runterbrechen als bei Scooter kann man Techno beim besten Willen nicht.
Mal raus aus der Nische der herausragenden Innovatoren für ein überschaubares Publikum, hin zu den massenkompatiblen Künstlern, die in Deutschland polarisieren: Tokio Hotel, Nena, Rammstein. Wie sieht es mit denen aus?
Nena hat anfangs einfach geile Pop-Platten gemacht. Rammstein hingegen ist der absolute Sonderfall. Sie haben es geschafft, sich eine eigene musikalische Identität zu bauen. Jeder erkennt die Band sofort. Das ist eine Leistung. Wenn man die Leute dahinter kennt, wird es noch interessanter. Das sind alle sehr spannende, schlaue Menschen, die es geschafft haben international etwas aufzubauen, das vorsätzlich deutsche Musik ist und mit allen Klischees spielt. Die Band könnte auch aus keinem anderen Land kommen. Sie rollen das „R“ in einem Song der „Amerika“ heißt.
Aber da steckt doch noch mehr hinter. Es gibt doch kaum eine deutsche Band, die derart stark darin ist, als Gesamtereignis eine Marketingmaschine ans Laufen zu bringen.
Das ist in Marketing und visueller Umsetzung so durchdacht, dass man sich nicht dagegen wehren kann. Rammstein wissen ganz genau, wie man Aufmerksamkeit erzeugt und kleine Skandale setzt. Dann wird da nochmal eben eine Ami-Flagge zersägt und das Video natürlich genau mit der Regisseurin gedreht, die gerade umstritten ist.
Inwieweit spielen denn eine politische Gesinnung und die ja doch zumindest manchmal fragwürdigen Texte eine Rolle für den Erfolg der Band?
Das ist in der Tat sehr kritisch, weil ich eine hundertprozentige Distanzierung der Band von dem, was Vollidioten auf die Konzerte holt, noch nicht gehört habe. Leute, die alles ernst nehmen, was Rammstein mit den schlechten deutschen Eigenschaften verbindet. Das sind Menschen, von denen Olli Schulz mal gesagt hat, sie glauben, dass der Sänger wirklich den ganzen Tag brennt. Das ist aber eher eine innerdeutsche Diskussion. Den Amis ist das egal. Die finden einfach nur interessant, dass auf der Bühne was passiert.
Wie gefällt Dir selbst denn Rammstein musikalisch?
Ich unterliege oft dem Rammstein-Phänomen: Immer wenn das erste Video kommt freue ich mich für zehn Sekunden auf die Platte. Wenn ich sie dann zum ersten Mal höre, fällt mir wieder ein, wie eindimensional und stumpf die Musik ist. Das vergisst man über das Image. Als in sich geschlossenes internationales Konzept reicht das aber aus, um zu bestehen. Rammstein kommt nahtlos an die Qualität mancher Ami-Größen ran und gehört zu den großen deutschen Export-Erfolgen. Das haben sie sich erarbeitet.
Ein anderer Export-Erfolg ist Dieter Bohlen. Ist der typisch deutsch?
Bohlen ist sehr pragmatisch. Er nimmt sich, was er braucht und mischt das immer wieder zu einem Ding zusammen. Mir ist Musik aber einfach zu wichtig, als dass ich Erfolg in der Anzahl verkaufter Platten messen oder Leute analysieren würde, um daraus den kleinsten gemeinsamen Nenner aus Strophe und Refrain mit einer Bridge zu vermischen.
Warum werden Bands wie die Einstürzenden Neubauten in Vorreiter-Ländern wie den USA gefeiert und Richtung Osten eher Bohlen, Scorpions und Songs wie „Eins, zwei, Polizei“?
Es ist schon auffällig, dass vor allem die Leute, bei denen hiesige Musikkritiker nicht unbedingt vor Begeisterung ausflippen, erfolgreich nach Ost-Europa gehen. Vielleicht zeigt es, wo andere Länder gerade stehen. Amerika steht musikalisch derzeit auch an einem ganz anderen Punkt als wir. Für uns ist das, wofür die Scorpions weiter im Osten gefeiert werden, einfach nicht mehr interessant. Ich werde mich aber hüten, da ein Urteil zu fällen, weil es viele tolle Leute gibt, die einfach Spaß an der Musik haben.
An welchem Punkt steht die Musik in Deutschland denn gerade?
Es passiert gerade sehr viel im deutschen Hip Hop – und das schon lange. Dort produzieren sich Leute schon seit längerem selbst, anstatt auf einen Plattenvertrag zu warten. Leute wie Prinz Pi hauen ihren Kram einfach über das Netz raus, und es funktioniert. Wir haben echt Glück, jemanden wie Casper zu haben. Woanders wird Nachwuchs gesucht, den es nicht gibt.
Was macht Casper so besonders?
Er sprengt Grenzen. Er eckt an und trifft dennoch den Nerv vieler. Und er stagniert musikalisch nicht. So etwas ist selten. Guter Nachwuchs ist beim Publikum höchst willkommen. Und durch das Netz ist der Weg zum Volk auch ohne Plattenfirmen und Mittelsmänner frei.
Wenn man sich Inhalte erfolgreicher deutscher Musik anschaut, dann fallen neben Hip Hop vor allem zwei Dinge auf: eskapistischer Schlager und gefühlige Sänger und Liedermacher. Es ist ein bisschen wie in den Achtzigern mit Roland Kaiser und Reinhard Mey.
Es ist immer eine Zeitgeist-Frage. Wer weiß, was in drei Jahren passiert? Im Populären schwingt derzeit wirklich vieles auf der Befindlichkeitsschiene. Das meiste ist recht einfach gestrickt: "Ich liebe Dich so sehr, und das muss raus". Der Diskurspop kommt aber zurück. Nach all der Befindlichkeit gibt es jetzt wieder eine Handvoll Bands, die klingen wie die jungen Tocotronic oder Blumfeld auf ihren ersten Platten. Das sind Bands wie Trümmer, Chuckamuck oder Die Heiterkeit.
Und warum fahren alle so auf Helene Fischer ab? Ist da wirklich eine große Sehnsucht nach schlichter Schlager-Welt oder liegt es eher an ihrer Person und ihrer Gesamtinszenierung?
Ich bin da kein Experte. Vielleicht liegt es auch einfach nur daran, dass Schlager neben Metal zu den wenigen Genres gehört, in denen noch ordentlich Platten verkauft werden. Das Publikum ist da treu, weil man auf den Konzerten so schön mitklatschen kann. Das machen wir Deutschen doch so gerne – sowohl beim Schlager, als auch beim Metal.
Ist das wirklich ein so deutsches Phänomen?
Ja, hier wird immer versucht, den Rhythmus zu treffen. Selbst wenn bei „Wetten dass...?“ Depeche Mode auf der Bühne stehen. Es passt ja auch sehr gut hierher. Internationale Band erzählen außerdem, dass das deutsche Publikum während der Songs still ist und zuhören will. In Amerika feiert sich das Publikum viel stärker selbst. Dafür sind die Leute hier treu und es kommt aus dem Herzen.
Wann bist Du im Ausland zum letzten Mal auf David Hasselhoff angesprochen worden?
Inzwischen spreche ich es selbst an, weil es mir schon so oft passiert ist. Das gehört mit Hitler und den Scorpions zu den drei Dingen, die immer kommen. Anfangs habe ich mich dafür geschämt. Aus reiner Neugier habe ich mir David Hasselhoff dann auch mal live angeschaut. Kein Konzert hat mich so lange derart bewegt. Ich habe noch nie etwas so konsequent Unterirdisches mit dem kompletten Verlust von Intellekt erlebt. Da war nichts. Das weiß er aber auch selbst und lacht darüber. Das ist dann schon wieder cool. Als Deutscher im Ausland muss man mit David Hasselhoff leben. Genau wie mit den Scorpions.
Interview: Jochen Voß
Jochen Schliemann kommt aus Schleswig-Holstein. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er als Musik- und Reisejournalist. Bei WDR-Hörfunkwelle 1LIVE kümmert er sich als Redakteur um die Sendung Plan B. Außerdem hat er unter anderem für Visions, Rolling Stone und Geo Saison geschrieben.